Allein, aber nicht einsam
Ich nehme einen Schluck von meiner Chai Latte. Er ist noch heiß, also blase ich zuerst mal in die aufgeschäumte Milch. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, ich habe noch eine knappe halbe Stunde, bevor ich die Kinder abholen muss. ‚Steyr Traktor von Bruder‘ schreibe ich dann auf das Post-it vor mir. Ich mache gerade meine Weihnachtsliste. Was ich noch brauche. Was ich noch organisieren muss. Was ich nicht vergessen darf.
Gedanken, die kommen
Ich schaue auf meine Liste und grüble weiter. Es fallen mir immer mehr Dinge ein, die er letztes Jahr organisiert hat. Wir hatten noch nicht viele gemeinsame Rituale. Dafür haben die zwei Weihnachten zusammen als Familie nicht gereicht. Aber das Grobe hat er gemacht. ‚Baum kaufen‘ schreibe ich also noch auf. Das werde ich wohl heuer selbst machen. In Klammer notiere ich ‚klein‘. Getränke schleppen für die Gäste ist auch so was Grobes. Und schwer. Ich schreibe ‚Frastanzer s‘klenne‘ auf meine Liste.
Träume, die bleiben
Ich lege meine Hände um die Tasse und schließe die Augen. Irgendwo singt jemand Feliz Navidad und nimmt die Kalbsbäckchen aus dem Rohr. Ich rieche das feine durchgegarte Fleisch. Die Kinder ziehen ungeduldig an meinem roten Kleid, dass ich extra für den Heiligen Abend angezogen habe. Da klingelt es an der Tür und ich höre ein ‚Frohe Weihnachten‘ rufen. Meine Mama ist gekommen. Hinter mir knallt ein Korken. Ich spüre eine Hand, die meinen Rücken streichelt und mich fragt: ‚Auch ein Gläschen?‘. Als ich mich umdrehe, steht da niemand.
Realität, die weh tut
Ich mach die Augen wieder auf. Hole laut Luft und wische mir über die Augen. Es ist was in der Luft. Ich nippe an meiner Latte. Die Erinnerung an die letzten beiden Jahre ist nicht so rosig wie der Traum eben. Das erste Weihnachten im neuen Haus ist er noch mit auf den Weihnachtsweg. Aber er war miesepetrig und hat uns den Abend verdorben. Das Jahr drauf hat er es dann einfach sein lassen. Ich bin allein mit den Kindern nachmittags zur Weihnachtsaufführung des Kasperls. Ein Familienfest fühlt sich anders an. Ich schreibe ‚Kindermette Uhrzeit checken‘ auf die Liste.
Gib dem Moment die Chance auf Zukunft
Traum und Wirklichkeit leben auf unterschiedlichen Planeten. Eindeutig. Heuer wird Weihnachten anders. Vielleicht ist es auch Zeit für neue Traditionen und Erinnerungen. Momente, die die Zukunft bereichern und zu neuen Ritualen werden können. Mal sehen. Meine Schwester kommt von Wien. Mit Mann und Sohn. Das wird schön. Ich schreibe noch ‚Nutella‘ auf meine Liste.
Als ich wieder zur Tasse greife, kommt mir der Gedanke an Silvester. Er darf sich nicht festsetzen. Ich will ihn wegschieben. „Dein Jahr wird, wie der erste Tag im neuen Jahr. Wenn du ihn allein verbringst, bleibst du das Jahr auch allein.“ Eine Binsenweisheit. Ich verdreh die Augen.
Die letzten beiden Silvester waren einsam im neuen Haus. Er hat woanders gefeiert. Ich sah den Raketen zu, bis die Tränen meinen Blick verwässerten. Ich habe allein ins neue Jahr gestartet. Und das blieb ich auch. Zwei Jahre lang.
Allein, aber nicht einsam
Mir graut vor Silvester. Ich schreibe ‚Kinderraketen‘ auf meine Liste. Vielleicht schaue ich mir den Mundl an. Ganz nach dem Motto: Schlimmer geht immer. Trinke dazu ein Martini mehr als sonst. Lache und weine laut. Und um Punkt Mitternacht ziehe ich mir dann einfach das Kissen über den Kopf. Ich schreibe ‚2x Martini‘ auf meine Liste. Das ist ein guter Plan. Der Blick auf die Uhr sagt mir, ich muss los, die Kinder holen. Ein letzter Schluck Latte und die Erkenntnis: Ich bin zwar allein, aber einsam bin ich definitiv nicht mehr.
Wie machst du das? Wie sieht es an den Feiertagen bei dir aus? Sind die Kinder beim Papa? Schau doch in der WhatsApp-Gruppe vorbei. Vielleicht geht es einer anderen Mama auch so und es ergibt sich ein Treffen. Einfach so. Auf eine Chai Latte. Oder ein Martini. Oder beides. Denn zusammen ist man weniger allein.
Weil wir Mamas alles schaffen.
Deine Sandra