Achterbahn fahren
Es ist morgens und ich sitz bei meiner kleine Nachteule. Sie mag Abends nicht ins Bett und in der Früh nicht raus. Sie braucht eine ganze Weile bis sie wach ist. Ich nehme mir die Zeit und wecke sie. Dann wird gekuschelt. Langsam wacht sie auf. Da kommt mein Kleiner ins Kinderzimmer und gesteht, dass die Schublade kaputt ist. Wieder. Ich habe sie erst gestern Abend repariert. Ich kann nicht mehr. Ich mag keine Achterbahnen.
Der ganz normale Wahnsinn
Der Maler kommt morgen. Ich nehme schon den ganzen Nachmittag die Bilder von den Wänden, verräume die Deko und mache die Zimmer barrierefrei von Spielsachen. Als ich im Zimmer meines Lieblingssohnes die Bettschublade öffne, kratzt sie am Boden entlang. Genau, da war noch was. Die wollte ich auch noch reparieren.
Trigger-Alarm
Das ist einer der Gründe, warum man als Team und zu zweit Kinder bekommt. Jeder bringt sich und seine Talente ein. Während – wie in meinem Fall – sich der eine um die Hausaufgaben, das gute Essen und die Theaterbesuche kümmert, ist der andere zuständig für Zelten im Garten, Abenteuerspielplatz und Dinge reparieren. So wäre die Idee gewesen. Aber das Leben läuft manchmal nicht nach Plan.
Ich seufze. Es nützt nichts. Kein Mann mehr da. Also raus aus der Komfortzone. Mit meiner Nachbarin hatte ich im Sommer den Sandkasten aufgebaut. Sie erklärte mir, wie die Bohrmaschine funktioniert und was ein Bit ist. Sie ist der Meinung, dass Jungen und Mädchen handwerkliches Geschick beigebracht gehört. Ich gebe ihr Recht. Aber ich komme aus einer Generation, als es in der Schule noch geschlechtergetrenntes Werken als Fach gab: Stricken und Handarbeit für Mädchen und die Jungs haben Werkstücke gebastelt. Ich bin alt.
Als ich den Bohrer in der Hand halte, versuche ich mich zu erinnern: Ist Holz ein weiches Material? Brauche ich da eine schnelle oder langsame Umdrehung? Was war nochmals vorwärts und was rückwärts? Welches Schraubengewinde brauche ich? Wird schon schief gehen, denke ich, so schwer kann das nicht sein. Selbst ist die Frau. Ich suche eine hübsche Schraube raus und drehe sie ein.
Das Superheldinnen-Gefühl
Es hat etwas die Spanplatte zerrissen und eine Wasserwaage würde ich jetzt auch nicht bemühen: Aber ich bin sehr zufrieden. Die Schublade hält und wie sie unterhalb aussieht kümmert ja keinen. Als ich sie einschob und sie sich wieder geräuschlos öffnet, flippe ich fast aus. Ich bin stolz wie Bolle und habe das Gefühl, ich kann die ganze Welt retten. Als ich das Teilen will, kostet es meine zwei Bambinis im Vorbeirennen nur einen kurzen Stop. Na super. Egal. Ich kann mich auch alleine freuen.
Ab ins Bett
Am nächsten Morgen sitze ich bei meiner Nachteule am Bett und wecke sie sanft. Mein Bubi kommt rein und gesteht: „Mama, die Schublade ist wieder kaputt.“ Es ist halb sieben Uhr morgens und ich hatte noch keinen Kaffee. Ich frage: „Wie? Was?“ Er, mit ernster Miene: „Ja, ich bin hineingestanden und dann ist die Schublade runter gebrochen. Jetzt ist sie wieder kaputt.“
Ich beginne zu schreien, merke beim dritten geschrienen Wort, dass das psychologisch keinen Sinn macht. Dinge sind, wie sie sind. Und was man nicht ändern kann, ändert sich auch durch schreien nicht. Also schreie ich: „Ich brauche 5 Minuten alleine. Ich bin im Schlafzimmer.“ und sperre mich direkt dort ein.
Genauso fühlt sich Achterbahn fahren an
Ich heule und mein Leben bricht über mir ein: Nicht einmal einen Tag bleibt die Welt einfach nur heil. Ich repariere und es geht wieder kaputt. Ich denke, ich schaff das und merke wie ich doch alleine bin. Ich fühle mich stark und wäre doch gerne schwach. Ich stehe auf und falle wieder hin. Ich drehe einen Looping nach dem Anderen. Wann schaffe ich es endlich, Achterbahn zu fahren und Spaß dabei zu haben? Vielleicht sogar die Hände in die Höhe zu reißen? Und wie lange muss ich noch fahren, um endlich anzukommen? Es bricht alles aus mir raus und ich schimpfe laut mit dem lieben Gott. Ich frage ihn nach dem Warum. Und weil es still bleibt, beruhige ich mich langsam.
Als der Weltschmerz draußen ist, rücke ich das Leben wieder zurecht. Aufgeben ist keine Option. Als ich in die Küche komme, sitzen beide Minis brav am Tisch und essen. Sie haben sich selber Frühstück gemacht. Ohne streiten und ohne Milchpfützen auf dem Tisch. Geht doch. Ich mache mir einen Kaffee und setze mich dazu. Mein Therapeut sagte immer, dass Zusammenbrechen nicht das Problem ist. Es kommt darauf an, wie wir danach damit umgehen.
Versöhnung fühlt sich gut an
Ich schaue den Kleinen an und erinnere ihn an den Sommer sowie daran, wie ich aus Versehen seinen Zuckersand-Eimer entsorgte. Mühsam hatte er ihn gesammelt und zurecht gesiebt und dann leerte ich den ganzen Kübel einfach in der Sandkiste zurück. Ich frage ihn, ob er noch weiß, wie sich das angefühlt hat. Tränen steigen ihm in die Augen und er nickt. „Traurig und wütend, nicht wahr? Und dann hast du mit mir geschimpft, weißt du noch?“ Er nickt wieder und muss ein wenig grinsen. Sein Spitzbuben-Grinsen. Ich nehme seine Hand und sage ihm, dass es mir gerade genau gleich gegangen ist. In seinem Kopf macht es Klick, ich höre das und nehme ihn fest in den Arm.
Es ist halb acht Uhr morgens. Die Schublade lass ich links liegen, vielleicht erbarmt sich ja der Maler, wenn er drüber steigen muss und wir gehen aus dem Haus. Als ich diese zusperre, meint der Kleine hinter mir: „Mama, wir können ja den Papa fragen, ob er uns die Schublade repariert.“
Weil wir Alleinerziehenden alles schaffen.
Deine Sandra