Ich zieh zu Papa

Dieser Satz ist das Schreckgespenst aller alleinerziehenden Mamas. Es treibt uns den Schweiß auf die Stirn und legt die pure Angst frei. Was, wenn mein Lieblingskind nicht bei mir bleiben will? Dann liegen wir nachts wach und das Gespenst beginnt zu flüstern. Es sagt Dinge wie: Du bist viel zu streng. Bei Papa gibt es immer Spaß. Er kann dem Kind viel mehr bieten als ich. Vielleicht kommt der Satz schon morgen. Vielleicht erst in der Pubertät. Aber er kommt. Bei mir kam er vor zwei Wochen. Ganz unerwartet und leise.

Der ganz normale Wahnsinn
Wir saßen beim Abendessen. Ich hatte meinen langen Arbeitstag und hatte die Kinder um fünf bei Mama abgeholt. Beide waren wie immer ein wenig aufgekratzt und ich wie immer noch mit dem Tag beschäftigt. Mein Bubi wollte ein Glas Milch. Ich stand also auf und holte die Flasche aus dem Kühlschrank. Meine Prinzessin maulte, sie will als erste die Milch eingeschenkt bekommen. Ich schenkte also ihr zuerst ein und tauchte wieder in meine Gedanken ein. Der Bubi maulte auch, aber das hörte ich schon nicht mehr: ‚Ich muss unbedingt noch die Geschirrspültabs auf die Einkaufsliste setzen. Habe ich die Rechnung für den Reifenwechsel überwiesen? Ich muss noch bügeln oder kann ich das nochmal verschieben? Hat mein Bubi noch Hosen?’

Knall. Peng. Autsch.
Plötzlich hörte ich meine Tochter sagen: „Mama, ich mag bei Papa wohnen.“ Sie sagte das ganz ohne Emotion. Total sachlich. Als hätte sie gesagt: „Mama, morgen soll’s regnen.“ Und so ganz ohne Vorwarnung oder vorangegangener Diskussion.

Der Satz holte mich zurück in die Gegenwart. An den Esstisch. So plötzlich, dass sich mein Körper schüttelte. In meinem Herzen stach es. Mein Impuls wollte los heulen. Meine Gedanken begannen zu rasen: ‚Wie reagiere ich? Warum sagt sie sowas? Woher kommt das? Was hat sie davor gesagt? Wieso höre ich nicht zu?’

Dann erinnerte ich mich, dass meine Mama mich vorgewarnt hat. Sie hat gesagt, dass dieser Satz irgendwann kommt. Diese Karte spielen Kinder aus. Weil sie Grenzen suchen. Weil sie Elternteile ausspielen. Weil sie Reaktionen testen. Mama hat mir auch gesagt, wie ich reagieren soll: Darüberstehen und sie ziehen lassen. Und in meiner Überforderung habe ich das auch getan: „Okay. Du kannst jederzeit gerne zu Papa ziehen. Sollen wir ihn anrufen, dass er dich holen kommt? Dann müssen wir nachher nur den Koffer packen.“

Einfach überfordert
Sie erschrak. Ich sah es an ihren Augen. Dann werden die großen braunen Telleraugen nämlich noch größer. Ich spürte auch, dass ihr diese Worte weh taten. Aber der Satz war draußen. Genauso wie mein erster Schreck. Darum wurde ich milder und schob eine Erklärung nach: „Wenn du zum Papa ziehst, dann musst du auch in einen anderen Kindergarten. Du hast doch hier inzwischen Freunde gefunden. Das wäre doch echt blöd. Außerdem kannst du dann abends gar nicht mehr mit mir kuscheln. Ich würde dich schrecklich vermissen.“

Sie überlegt. Dann sagt sie: „Mama, du hast Recht. Dann bleibe ich hier wohnen. Aber ich will zu Papa mal wieder in den Urlaub.“ Ich nickte und atmete auf. Nochmal gut gegangen.

Aber das Gespräch hat einen Beigeschmack: Ihre Frage. Meine Antwort. Ihre Reaktion. Meine Härte. Irgendwie fühlte sich das ganz und gar nicht gut an. Der Herzschmerz und das schwere Gewissen begleiteten mich die folgenden Tage, wie das Gespenst, dass mir lächelnd hinterher schlich.

Dem Gespenst den Garaus machen
Ich erzählte meinem Therapeuten davon. Er – analytisch und wertfrei wie immer – sagte: „Da hast du sehr hart reagiert.“ Na sauber, dachte ich, dass hast jetzt auch schon wieder verbockt. Ich bin eine schlechte Mama. Als er meinen gesenkten Blick sah, sagte er: „Sandra, hast du dich gefragt, aus welchem Bedürfnis heraus sie das gesagt hat. Ihre Absicht war vielleicht gar nicht, dir weh zu tun.“ Nein. Das hatte ich nicht. Ich war so mit mir und meinem Gespenst beschäftigt, dass ich nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, was bei ihr los sein könnte.

Er gab mir einen Rat: Wenn ein Kind eine solche Ansage macht, ist die erste Reaktion immer eine Rückfrage, nämlich „Warum möchtest du das?“ Das gibt dem Gespräch eine andere Dynamik und man bewegt sich weg von der Aussage hin zur Botschaft. Das schafft einen Raum für ein Gespräch auf einer ganz anderen Ebene. Ein guter Ansatz, wie ich finde.

Wieder-Gut-Machen
Ich habe das übrigens gemacht: Diese Frage nach dem ‚Warum‘ meiner Tochter in einer ruhigen Minute gestellt. Sie hat mir dann erzählt, dass sie den Papa vermisst und sie ihn so wenig sieht. Und: Ich hörte raus, dass sie bei dieser Frage gar nicht an die Konsequenz gedacht hat. Nämlich dass ein Umziehen zum Papa auch ein Wegziehen von der Mama heißt. Sie ist halt doch erst fünf Jahre alt. Nach dem Gespräch war ich wieder ruhiger und sie auch. Das Gespenst hat sich verzogen.

Ich weiß, dass dieser Satz „Ich ziehe zu Papa.“ wieder kommt. Ganz bestimmt. Spätestens in der Pubertät, wenn ich ihr verbiete zu rauchen. Der Satz wird mich wieder mitten ins Herz treffen und das Gespenst aus der Ecke holen. Ich hoffe, ich reagiere dann anders: Überlegter. Besonnener. Erwachsener. Und wenn nicht, weiß ich jetzt, wie ich es wieder gut mache. Mit einem Gespräch und der offenen Frage: „Warum sagst du das“. Die Pubertät kann kommen.

Weil wir Alleinerziehenden alles schaffen.
Deine Sandra

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